Kippfenstersyndrom

Infos zu Skelett, Knochenbrüche, Muskeln, Bänder, Gelenke, Behinderungen, Arthritis, Arthrose

Moderator: SONJA

Benutzeravatar
Cuilfaen
Extrem-Experte
Extrem-Experte
Beiträge: 20235
Registriert: 14.05.2007 16:44
Geschlecht: weiblich
Wohnort: Euskirchen
Kontaktdaten:

Kippfenstersyndrom

Beitragvon Cuilfaen » 28.04.2011 20:42

Wichtiges vorab!Eine Katze mit Kippfenstersyndrom benötigt schnelle, intensive, tierärztliche Betreuung!
Ist es deine eigene Katze, fahr bitte SOFORT zum Tierarzt oder in eine Tierklinik.
Solltest du eine in einem Kippfenster eingeklemmte Katze sehen, klingel an der entsprechenden Wohnung und rufe die Feuerwehr, wenn dir niemand öffnet, damit die Katze schnellstmöglich aus ihrer gefährlichen Lage befreit werden kann.


Auch die eigene Sicherheit ist wichtig!Ist die Katze noch nicht völlig entkräftet, wird sie sich gegen einen Befreiungsversuch nach Leibeskräften wehren.
Ähnlich wie ein Ertrinkender, der in seiner Panik den Retter unter Wasser drückt.
Dies kann böse Beiß- und Kratzwunden zur Folge haben.
Arbeitshandschuhe oder ein Handtuch können da gut vorbeugen.


Wie kommt es zu einem Kippfenstersyndrom?Leider sind sich auch heutzutage immer noch viel zu wenige Katzenhalter der Gefahr von gekippten Fenstern für unsere Stubentiger bewusst.
Oder aber sie gehen das Risiko mehr oder weniger bewusst ein und sagen lapidar "die hat sich noch nie für den Fensterspalt interessiert" oder "ach, das Fenster ist doch nur ganz kurz offen gewesen".
Ein Verhalten, das unter Umständen den Tod der Katze nach sich ziehen kann.
Manche Katzen packt bei einem gekippten Fenster die Neugierde oder sie schnuppern die leckere Luft der Freiheit oder aber sie verfolgen z.B. gerade eine Fliege, die sich durch den Fensterspalt nach draußen rettet. Schon wird auch versucht, durch den Spalt nach draußen zu kommen.
Häufig schafft die Katze das jedoch nicht, sondern gelangt nur mit dem Oberkörper hinaus.
Durch die V-förmige Öffnung rutscht die Katze nun langsam in den immer schmaler werdenden Spalt.
Ihre strampelnden Befreiungsversuche beschleunigen das Ganze nur noch.
Je nach Dauer der Abwesenheit der Halter oder betreuenden Personen verbringt die Katze manchmal Stunden eingeklemmt in dem Spalt, bevor sie gerettet wird. Wird sie nicht rechtzeitig befreit, hat das den Tod zu Folge.


Was passiert auf organischer Ebene?Häufig hängt die Katze im Taillenbereich im Fensterspalt fest.
Der immense Druck von außen führt zu einer Quetschung der Baucharterie. Dies widerum führt zu einer
(Sauerstoff-Unterversorgung) z.B. der Muskeln, der Organe und der Nerven der unteren Körperhälfte. Da jedoch meist nicht nur die Arterie betroffen ist, sondern auch die Hauptvene, können entstehende schädliche Stoffwechselprodukte nicht mehr abtransportiert werden. Dadurch (und durch die anstrengenden Befreiungsversuche) übersäuern die Muskeln und sowohl Muskeln als auch Nerven werden geschädigt.
Die inneren Organe sind oft auch zusätzlich zum Sauerstoffmangel direkt von der Quetschung betroffen: dies betrifft vor allem die Blase, den Darm oder die Nieren.
Die Organwände können geschädigt werden und/oder die Blutgefäße können reißen. Dies führt dann zu inneren Blutungen und möglicherweise zum Absterben des unterversorgten Gewebes (z.B. Schleimhaut- oder Fettgewebe).
Auch die Wirbelsäule oder das Rückenmark können direkt geschädigt werden. Dies und auch die oben genannte Ischämie führt häufig zu einer Lähmung der hinteren Extremitäten (seltener auch zu einer Blasen- und/oder Darmlähmung).


Wieso ist die Gefahr nach der Befreiung und der ersten Stabilisierung noch nicht gebannt?Leider erlebt man es gerade beim Kippfenstersyndrom häufig, dass sich der Gesundheitszustand von Katzen trotz eines ersten stabilen Eindrucks nach einiger Zeit (manchmal auch Tagen) dramatisch verschlechtert. Dies kann mehrere Ursachen haben.
Zum einen stehen die Katzen bei einem Kippfensterunfall unter . Das bedeutet (ganz einfach ausgedrückt), dass der Körper auf "Sparflamme" funktioniert und die Blutzufuhr in die Peripherie eingeschränkt wird, um eine ausreichende Blutversorgung der wichtigsten Organe wie Herz und Gehirn zu gewährleisten. Der Schockzustand selber ist ein auf Dauer gefährlicher Zustand (auch aufgrund der Blutunterversorgung der Peripherie) und muss daher aufgehoben werden. Dadurch gelangt jedoch auch wieder mehr Blut in die kleinen Blutgefäße und dort entstandene Verletzungen werden erst jetzt wirklich gefährlich.
Ein weiteres Problem sind die giftigen Stoffwechselprodukte, die sich aufgrund der Quetschung der Vene in der unteren Körperhälfte angesammelt haben (s.o.). Funktioniert die Blutzirkulation wieder, werden auch diese Gifte in den ganzen Körper, die Organe und insbesondere zum Herzen gepumpt.
Dort können z.B. Herzrhythmusstörungen die Folge sein.
Auch ein ist möglich, bei dem durch biochemische Prozesse entstandene (und weiterhin entstehende) Sauerstoffradikale das Gewebe zusätzlich schädigen.
In beiden Fällen kann es im schlimmsten Fall zu Organversagen kommen.
Schlussendlich ist aufgrund der unterbrochenen oder eingeschränkten Blutzufuhr auch die Gefahr erhöht, dass es zu einer späteren Thrombenbildung kommt.


Was kann man tun?Am Allerwichtigsten ist eine schnelle, intensive, medizinische Betreuung, die über die kritische Zeit hinaus andauern sollte.
Dabei muss eine sofortige Schockbehandlung mit Infusionen, Wärmetherapie (oft sind die Katzen unterkühlt, insbesondere die schlecht durchbluteten Bereiche) und gegebenenfalls Cortison eingeleitet werden, um den Kreislauf zu stabilisieren.
Auch eine Schmerzmedikation sollte auf jeden Fall erfolgen.
Eine anhaltende Flüssigkeitsversorgung ist sehr wichtig, damit die Nieren gut gespült werden und so angesammelte Schadstoffe aus dem Körper geschwemmt werden. Sonst kann es leicht zu Nierenkoliken und im schlimmsten Fall zu Nierenversagen kommen. Natürlich muss dabei die Funktionstüchtigkeit der Blase genau beobachtet werden. Bei einer anhaltenden Blasenlähmung muss unterstützend eingegriffen werden, auch wenn dies leider ebenfalls Risiken bergen kann: die manuelle Entleerung der Blase und der Überdruck einer vollen Blase können zu einer Bauchfellentzündung und einer dauerhaften Lähmung führen, die nur noch sehr schwer therapierbar sind. Bei den Darmnerven verhält es sich ähnlich, allerdings hat man hier mehr Zeit, als bei den Blasennerven, bevor es zu lebensbedrohlichen Situationen kommt.
Gegebenenfalls bietet sich die Gabe von hochdosiertem Vitamin B12 an, um die Regeneration der Nerven zu fördern.

Generell ist eine genaue Diagnostik (z.B. neurologisch und röntgenologisch oder auch eine Blutuntersuchung) unerlässlich, um ein Bild über das Ausmaß der Verletzung zu bekommen und entsprechend eingreifen zu können.

Zu einer verbesserten Durchblutung und Nervenregeneration kann dann die Physiotherapie beitragen, mit der bereits in der Akutphase begonnen werden sollte. Die Übungen sollten in Absprache mit dem TA oder Tierphysiotherapeuten auch zuhause noch so lange wie nötig erfolgen. Hilfreich sind in dem Zusammenhang häufig auch die Chiropraktik, Akupunktur oder Massagen.
Auch mit weiteren alternativen Heilmethoden (z.B. Homöopathie) kann man zur schnelleren Regenerierung der Nerven beitragen.


Wie ist die Prognose?Natürlich ist es immer schwierig, Fragen nach der Überlebenschance zu beantworten, daher wird es in diesem Infotext auch keine Prozentzahlen zu lesen geben.

Ein sehr wichtiger Faktor ist die Zeit, die die Katze bis zu ihrer Rettung in dem Fensterspalt verbracht hat - je länger die Quetschungen angehalten haben, desto schlechter stehen die Überlebenschancen oder die Aussichten auf eine vollständige Genesung.
Ein weiterer Faktor, der sich auf die Prognose auswirkt, ist der selbstständige Urinabsatz.
Wenn innerhalb der ersten 24 Std Harnabsatz erfolgt und erfolgreich eine Flüssigkeitstherapie durchgeführt wird, steigen die Überlebenschancen deutlich.
Dennoch ist es wichtig, die Katze weiterhin in Behandlung zu belassen, um eine gute Durchblutung der Nieren zu gewährleisten, damit alle schädlichen Stoffwechselprodukte ausgeschieden werden können und die Nieren dabei gesund bleiben.

Bei einer Lähmung der hinteren Extremitäten ist die Tiefensensibilität ein interessanter Faktor. Ist sie vorhanden, ist die Chance hoch, dass sich das Nervengewebe vollständig regeneriert und die Katze nach einiger Zeit wieder laufen kann. Doch auch bei einer nicht-vorhandenen Tiefensensibilität sollte man nicht gleich aufgeben - auch wenn die Prognose eher vorsichtig zu stellen ist, gibt es auch dort erfolgreiche Heilungsverläufe.


Wie kann man vorbeugen?Die Frage ist einfach beantwortet: man kippt kein Fenster oder lässt es nicht unbeaufsichtigt, wenn die Katze im selben Raum ist. Stoßlüftung mit weit geöffneten Fenstern (und je nach dem Wohnungskatzen in einem anderen Raum) ist sowieso viel energieschonender. :wink:
Eine Alternative ist der sogenannte Kippfensterschutz, den man in vielen Fachgeschäften oder im Internet käuflich erwerben kann (z.B. hier). Der Vorteil dabei ist, dass der Fensterspalt für die Katze vollständig unzugänglich ist - so wird nicht nur der Unfall verhindert, auch ein Entwischen ist unmöglich.
Eine weiter Möglichkeit sind "Klötze", die man in den Fensterspalt einklemmen kann (z.B. diese) - dadurch kann die Katze nicht nach unten rutschen und sich somit nicht verletzen. Ausbruchsversuche werden so aber nicht unterbunden!


interessante Literatur und Links


Liebe Grüße von Annika mit Anarion, Izzie und Merry
Bild


Zurück zu „Bewegungsapparat“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 6 Gäste